Vom Mut, mit Mukoviszidose eine Familie zu gründen

„Tannheim hat uns das größte Geschenk gemacht“

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Mit Ende 20 erkannte Jakob, dass es so nicht weitergehen konnte. In Tannheim stellte er sich seinen Ängsten und entschied sich für sein größtes Abenteuer: Es heißt Mathilda und ist vier Jahre alt.

Jakob Mehl glaubte, seine Mukoviszidose-Erkrankung gut im Griff zu haben. Schon als Teenager kümmerte er sich selbstständig um seine Arzttermine und Therapien. Doch mit Anfang 20 bemerkte er die ersten Einschränkungen. Dann kam der Stress im Physikstudium und während seiner anschließenden Promotion. Ab Mitte 20 machten ihm Infekte immer mehr zu schaffen. Seine Nasennebenhöhlen wurden mehr als zwanzigmal operiert. Sein Alltag strengte ihn zunehmend an, doch die Hoffnung auf Besserung verschwand. Es gab kein Leben neben Beruf und Therapie. Sich Hilfe zu holen empfand er als Zeichen von Schwäche. Gleichzeitig wuchsen die psychischen Probleme. „Mit Ende 20 habe ich dann gemerkt: So kann es nicht weitergehen.“ Also entschied er sich für eine Reha in Tannheim; ein Hoffnungsschimmer in seinem Leben.

Bei seiner Ankunft zur ersten Reha 2011 ist Jakob sehr angespannt. Er hat Angst vor den Begegnungen mit anderen Mukoviszidose-Patienten, fürchtet sich vor Infektionen. Doch schon einen Tag später überkam ihn die „große Leere“, wie er es nennt. Damit beschreibt er einen Zustand der Entspannung, wie er ihn selten erlebt hat. Es folgen vier intensive Wochen. Seine Frau Michi begleitet ihn bei seinem ersten und zweiten Aufenthalt in Tannheim. Jochen Künzel, Leitung Psychosozialer Dienst, unterstützt sie dabei. Jakob bezeichnet ihn als „Ausnahmetherapeut“. Gemeinsam erarbeiten sie Jakobs persönliche Definition von Mut: Er lernt, sich nicht von seinen Ängsten lähmen zu lassen und Entscheidungen zu treffen. Die Reha zeigt ihm: Seine Probleme verschwinden nicht, doch sie sind lösbar. So lernen Michi und er, als Paar noch enger zusammenzurücken. Spricht er über seine Frau, merken Zuhörer sofort, wie wichtig sie Jakob ist: „Wir gingen auf dasselbe Gymnasium. Sie war 15, ich 19. Viele auf unserer Schule standen auf sie und ich hatte das Glück, dass sie sich für mich entschied.“ Seitdem hält sie ihm den Rücken frei und bildet das richtige Pendant zu Jakob: Wo er als typischer Theoretiker zu sehr ins Grübeln gerät, beschäftigt sie sich erst dann mit einem Problem, wenn es da ist. Verdrängen sei die leichteste Art, mit Konflikten umzugehen, sagte ihm auch Jochen Künzel.

Therapie hilft, Probleme zu lösen, wenn sie sich stellen

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Während ihres zweiten Aufenthalts setzen Michi und er sich intensiv mit ihrer Familienplanung auseinander. Michi möchte Kinder, Jakob ist unentschlossen:
„Ein Kind wollte ich schon gerne haben, aber ich hatte Angst, ob ich dem gewachsen wäre. Ich dachte: noch was, was ich stemmen muss.“ Doch er erinnert sich noch genau an die Sitzung, die die Entscheidung fällt: „Wir sollten getrennt voneinander ein Bild malen, wie wir uns das Leben künftig vorstellten. Wir hatten beide Kinder gemalt! Da war alles klar.“

Rückblickend sagt der 40-Jährige: „Es war die schwerste, aber die beste Entscheidung unseres Lebens“. Die psychosoziale Unterstützung und das außergewöhnliche Angebot schätzt er mindestens ebenso wie die Mitarbeitenden, die ihn ausnahmslos fachlich wie menschlich beeindruckt haben.
Da kommt Mathilda herein, ein Kuscheltuch in der Hand, und klettert ihm auf den Schoß. „Sie ist gerade in der Blüte der Trotzigkeit, aber es ist schön“, sagt Jakob, um seine Augen vertiefen sich die Lachfältchen. „Wir überlegen, ob wir die Familie noch vergrößern.“ Der Mukoviszidose-Patient weiß heute, dass er viel mehr schaffen kann, als er dachte. Mehr noch: „Die Muko gerät in den Hintergrund, sie ist nicht mehr das zentrale Thema.“

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Mukoviszidose ist im Alltag nicht mehr zentrales Thema

Der Physiker muss weiterhin Zeit für Inhalieren, Sport und Physiotherapie einplanen, aber das neue Medikament Kaftrio erleichtert ihm den Alltag immens. Trotzdem ist der Alltag mit der Krankheit anstrengender und er muss seine Prioritäten mit Bedacht setzen.
Früh war ihm klar, dass das Leben endlich ist. Auch dank der psychosozialen Therapie konnte er sich mit seiner Sterblichkeit als omnipräsentem Schatten arrangieren: Probleme lösen, wenn sie sich stellen. So hält er es nun auch mit dem Tod. Seitdem hat Jakob Mehl seinen Frieden gefunden. Heute ist er dankbar – für seine Familie, aber auch für das, was die Klinik für ihn getan hat; und zwar „aus tiefstem Herzen“.

„Es war die schwerste, aber die beste Entscheidung unseres Lebens."

Jakob Mehl

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